Provence

 

Herbsttour in die Wärme…

 

Vorbemerkung:

 

Der Sommer in Mitteleuropa ist so gut wie gelaufen, er war zumindest hier an der Nordsee gar nicht mal so schlecht. Aber für Licht- und Sonnenfreunde gibt’s nun mal deutlich begnadetere Gefilde im Süden unseres großen Nachbarn!

 

Nachdem die Urlaubssaison zu Ende ist und die europäische Welt wieder dem alltäglichen Broterwerb nachgeht, wird es Zeit für einen Trip in die Provence: noch einmal zwei Wochen Wärme tanken, bevor es in Allemagne endgültig ungemütlich wird. Freund Bernhard ist hoch motiviert, seinem neuen Drahtesel die große weite Welt zu zeigen und kommt folglich mit.

 

Wir wollen uns auf einen überschaubaren Teil der Provence beschränken und es locker angehen lassen – zum „abmetern“ ist dieser Landstrich einfach zu interessant. Von Remoulins aus soll es über die Rhone zum Schicksalsberg der Tour de France gehen, zum Mt. Ventoux. Über die Hochplateaus der Provence führt die Route weiter nach Osten bis zur „Mutter aller Schluchten“, dem Grand Canyon du Verdon. Auf südlicher Route geht es dann entlang des Höhenzuges vom Luberon zurück über die Alpilles ins schöne Rhonestädtchen Arles. Den Abschluss der Tour bilden zwei Tage am Pont du Gard, von wo wir uns einen Tagestrip nach Avignon gönnen.

 

Mit diesem Tourenplan im Kopf denke ich etwas sorgenvoll an die Erlebnisse von Birgit Vanderbeke auf den dortigen Strassen. Diese Erlebnisse stellt sie sehr schön in ihrem Buch „Gebrauchsanweisung für Südfrankreich“ pointiert dar:

 

 „…Daniel nämlich pfeift auf die Straßenverkehrsordnung. Er pfeift im übrigen sowieso auf jegliche Staatsgewalt, aber das wird ein anderes Kapitel werden, weil Sie ja jetzt erst kurz hinter Montélimar sind, wo es zugegebenermaßen weder von Staatsgewalt noch von irren Autofahrern besonders wimmelt, sondern nur von Lkws. Ernst wird es erst, sobald Sie auf eine Route Nationale fahren. Zunächst stellen Sie fest, dass das runde Schild mit der Tempoangabe 90 reine Makulatur ist und keiner unter 100 fährt, die meisten bedeutend schneller. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn Sie die autobahnähnliche Nationalstraße nicht irgendwann verlassen müssten, weil an Nationalstraßen bekanntlich diese Natursteinhäuser nicht stehen, auf die Sie sich seit Köln-Kalk gefreut haben. Die stehen da, wo die Straßen zweispurig sind, etwas schmaler, als Ihr Citroën Xantia sie gewohnt ist; und dann fangen die Kurven an, die Steigungen mit Kurven, und jetzt sollten Sie die Sache nicht mehr leicht nehmen: es kann nicht mehr lange dauern, da kommt ihnen einer locker mit 110 in einer Kurve entgegen, von der Sie kaum glauben, dass man sie mit 70 nehmen kann, und zwar kommt der mit den 110 nicht auf seiner Seite, sondern mindestens zur Hälfte auf Ihrer entgegen, ganz egal, ob die Fahrbahnmitte noch markiert ist oder – wahrscheinlicher – nicht. Wenn Sie jetzt Glück haben, werden Sie in dem Moment nicht gerade von dem halbstarken Peugeot 206 hinter Ihnen überholt, der Ihnen schon eine Weile lang an der Stoßstange hängt, und können gerade noch rechts ausweichen, wobei Ihr Citroën sich sehr wundert, wie nah der Graben an seinen rechten Rädern vorbeirutscht. Nach meiner Erfahrung allerdings haben fast alle halbstarken Peugeot 206 den unwiderstehlichen Drang, alles, was nicht 110 fährt, ausgerechnet in Kurven überholen zu müssen, weil  sie alle Daniel sind und von der Straßenverkehrsordnung sowie ganz allgemein der Staatsgewalt nichts halten, und dann brauchen Sie gute Nerven und noch bessere Bremsen.“

 

Na denn: immer locker bleiben…

 

 

Freitag, 03.09. Busfahrt Oldenburg – Pont du Gard/Remoulins:

 

Natours, das Busreiseunternehmen aus dem Osnabrücker Land, bringt uns mit dem „Fahrradbus“ von Osnabrück aus nach Remoulins, der Heimat des legendären Römer-Aquäduktes Pont du Gard. Die Räder hängen sicher im Anhänger, meine 200 cm Körperlänge bringe ich nur etwas mühsam im Bus unter. Ein Teil der Sitze lässt sich zur Liegefläche umrüsten – bequem ist allerdings etwas anderes: So oder ähnlich muss es den Sardinen in ihrer Büchse gehen. Die Fahrt ist lang, und 18 Stunden nach unserem Aufbruch erreichen wir mit steifen Gräten unseren Zielort.

 

Samstag, 04.09. Pont du Gard – Caromb:

 

In Remoulins herrschen noch überraschend hohe Temperaturen, das Einrichten unserer „Wohnmobile“ und das Verstauen des Gepäckes ist schweisstreibend. Nach der langen Busfahrt ist uns nicht nach Ausruhen zumute, wir wollen unsere Glieder gleich in Schwung bringen. Was fehlt, ist Wasser für die ersten Kilometer. Bei diesen Temperaturen wird der Körper bald nach dem Nass verlangen.

 

Der erste Laden, über den wir stolpern, ist uns nicht ganz unvertraut. Vier Buchstaben geben untrüglich Aufschluss darüber, dass vor uns schon andere Landsleute diesen Teil der Welt erschlossen haben: LIDL!  Das Sortiment ist uns ebenso vertraut wie der Name. Na ja, egal: Wasser ist Wasser, und das erfüllt eben auch bei LIDL seinen Zweck!

 

Um in die Provence hinüber zu kommen, müssen wir zunächst das Rhonetal queren. Und das ist nicht ganz ohne: das Rhonetal ist dicht besiedelt und verkehrstechnisch perfekt erschlossen. Jeder, der von Nord- oder Mitteleuropa nach Südfrankreich oder Spanien will, muss zwangsläufig hier durch. Es ist nicht ganz einfach, einen Weg abseits der stark befahrenen Strassen zu finden. Aber dank genauem Kartenstudium finden wir einen Weg, der nicht so stark befahren ist. Ein paar Kilometer auf der Route Nationale 100 in Richtung Avignon bleiben uns allerdings nicht erspart. Wir verlassen die Schnellstrasse jedoch bald und folgen dem Westufer der Rhone bis Roquemaure auf einer angenehmen Nebenstrasse. So umfahren wir Avignon grosszügig.

 

Nachdem wir auf das Ostufer der Rhone gewechselt haben, durchqueren wir das Weinanbaugebiet von Chateauneuf. Hier wurde bereits zu Zeiten der Avignon’schen „Gegenpapstszene“ ein guter Tropfen angebaut. Heute locken berühmte Kellereien Freunde feiner Getränke aus aller Welt in die Region.

 

Durch die Weinhügel des Rhonetales kommen wir zügig voran. Ab Bedarides wird es flach, die Strecke ist schön, kaum befahren und folglich bestens zum einradeln geeignet. Wir erreichen am Nachmittag das Städtchen Carpentras. In der Ferne leuchtet bereits die weiße Kalkkuppe des höchsten Berges der Region, der Mt. Ventoux.

 

Carpentras ist geschäftig, auf den Strassen ist einiges los. Wir gönnen uns in der Bar einen Kaffee und machen zum ersten Mal ernüchternde Bekanntschaft mit den ortsüblichen Tarifen derartiger Stimulantien. In Carpentras beginnt der zunächst noch moderate Anstieg zum Berg der Winde.

 

Am Ende des ersten langen Tages, wo uns zudem noch die lange Busfahrt in den Knochen steckt, verlassen Bernhard irgendwann die Kräfte. So entscheiden wir, nicht mehr nach Malaucène über den Buckel hinüber zu fahren, sondern in Caromb am Südhang des Mt. Ventoux zu nächtigen. Der Zeltplatz dort ist nicht schlecht, er hat viel Schatten und eine gute Aussicht bis hinüber ins Rhonetal.  

 

 

Sonntag, 05.09. Caromb – Mt. Ventoux – Caromb:

 

In der Nacht kompensieren wir unser Schlafdefizit von der Busfahrt und werden erst spät wach. Der Berg ruft und wir überlegen, wie und auf welcher Route wir den Gipfel am besten radelnd erreichen. Da uns noch die nötigen Höhenmeter in den Beinen fehlen, entscheiden wir uns für die ökonomischere Variante. Wir beschliessen, eine Tagestour ohne Gepäck zu unternehmen und abends wieder hierher zurück zu kommen.

 

Um nach Malaucène zu gelangen, müssen wir zunächst die Westflanke des Mt. Ventoux überqueren. Das ist zwar noch nicht so steil, bringt aber dennoch das Blut schon mal leicht in Wallungen. Ab Malaucène wird’s ernst. Zunächst gönnen wir uns in dem schönen Ort einen Erfrischungsstopp, dann trennen sich unsere Wege. Am Berg kämpft jeder seinen eigenen Kampf, Bernhard ist sich noch nicht ganz sicher, ob er überhaupt bis ganz nach oben will.

 

Ich will, folglich starte ich mit gleichmässigem Tritt den langen Ritt aufwärts. Dieser Berg ist ein „Tour de France“- Klassiker, die Strasse ist perfekt asphaltiert – glatt wie ein Kinderpopo! Die Steigung liegt im Mittel um die 10 %, einige Abschnitte sind auch steiler. Ich arbeite mich langsam aber stetig aufwärts – 1600 Höhenmeter sind am zweiten Radeltag kein Pappenstiel.

 

Die Strecke zwischen Malaucène und dem Gipfel ist eigentlich die Abfahrtstrecke der Tour, folglich fährt auch heute kaum jemand hier hinauf. Stattdessen kommen mir Horden von bunt gekleideten Hobbyrennradlern in flottem Tempo von oben entgegen. Für mich heisst es dagegen weiter ackern und schwitzen.

 

Mit zunehmender Höhe wird der Weg von weggeworfenen Tuben gesäumt, die offenbar energiereiche Substanzen enthielten und von leidenden Radlern als letzte Rettung verspeist wurden. Von der Alm Mt. Serein führt die Strasse durch den Wald steil aufwärts und gibt schließlich erstmals den Blick auf die weiße Kalkspitze des Mt. Ventoux frei.

 

Dreieinhalb Stunden nach meinem Aufbruch von Malaucène erreiche ich mit weichen Knien den Gipfel. Obwohl heute Sonntag ist, hält sich der Trubel hier oben zum Glück in Grenzen. Es weht ein kalter Wind, und die Sicht ist leider nicht so klar. Dennoch brauche ich jetzt eine Pause und freue mich über den gemeisterten Buckel. Da ich nicht sicher bin, ob Bernhard überhaupt bis zum Gipfel fährt, beschliesse ich weiterzuradeln.

 

Die Abfahrt unterbreche ich bereits nach kurzer Zeit am Gedenkstein von Tom Simpson. Der arme Kerl hatte sich in den siebziger Jahren irgendwann gedopt auf die Tour de France begeben und den mörderischen Anstieg von der Ostseite nicht überlebt. Kurz vor dem Gipfel fiel er tot vom Rad. Der Ort des tragischen Geschehens lockt seitdem die radelnde Welt zum ehrfürchtigen Innehalten.

 

Was beim Hochfahren die Pedaleure quält, ist für mich als Abwärtsradler nun ein Hochgenuss. Auf steiler kurvenreicher Straße rase ich mit klammen Fingern fröstelnd abwärts der Sonne entgegen. Am Chalet Reynard verlasse ich die Hauptstrasse und tauche in den Wald ein. Steil und kurvenreich geht es immer weiter abwärts, radeln ist eine Wonne, zumal es immer wärmer wird.

 

Die letzten Kilometer führen mich durch die Dörfer am Fusse des Mt. Ventoux zurück nach Caromb. Hier treffe ich Bernhard wieder. Er ist nicht bis zum Gipfel gewesen, sondern hat an der Alm Mt. Serein beschlossen, umzukehren und auf gleichem Wege zurück zu radeln. Leider haben heute am Abend schon alle Läden zu, so dass das Abendessen etwas spartanisch ausfällt…           

 

 

Montag, 06.09. Caromb – Sault:

 

Nach einer schönen warmen Nacht brechen wir früh auf. Der Hunger treibt uns zum nächsten Laden. Im Ort kaufen wir erst einmal reichhaltigen Proviant ein und gönnen uns ein opulentes Frühstück auf dem Place Nationale. Zwischen Modène und Mormoiron führt die Nebenstrasse über einen kleinen aber schweisstreibenden Buckel.

 

In Villes verlassen wir die Hauptstrasse und kommen in das einsame Tal des Flusses Nesque. Durch eine grandiose Felsszenerie führt die Strasse stetig aufwärts zum Plateau von Vaucluse. Es herrscht kaum Verkehr, radeln macht mal wieder richtig Laune! Einige in den Fels gehauene Tunnel würzen diese Strecke.

 

Auf der Höhe am Ausgang der Schlucht bietet ein Belvedére gute Aussicht in die Schlucht bis hinüber zum Mt. Ventoux. Die weitere Fahrt auf die Hochfläche bis Sault führt teilweise durch Lavendelfelder, die zwar mittlerweile abgeerntet sind, deren betörender Duft aber nach wie vor die Luft bereichert. Die letzten Meter nach Sault geht es noch mal ordentlich aufwärts.

 

Der Ort liegt auf einem Felssporn, die Aussicht vom Ortsrand auf die Ebene ist fein. Ausserhalb des schönen Städtchens liegt in einer Höhe von 780 Metern der weitläufige Campingplatz unter Bäumen. Hier ist es deutlich kühler als am Vortag. Auf unserem Trangiakocher zaubern wir uns ein kohlehydratreiches Mahl.   

 

 

Dienstag, 07.09. Sault – Forcalquier:

 

Der heutige Tag beginnt auf der Höhe des Plateaus von Vaucluse frisch aber sonnig. Die Landschaft erinnert mich stark an die Hochfläche der Schwäbischen Alb. Kalkmagerrasen, kleine Wäldchen und Trockentäler bestimmen die Szenerie. Im Unterschied zur Alb gibt es hier allerdings weite Lavendelfelder. In endlosen Reihen gepflanzt verleihen sie dem Plateau eine geometrische Grundstruktur.   

 

Die einsame Straße windet sich kurvenreich am Fuße der Montagne de Lure ostwärts und erreicht schliesslich am Ende einer langen Abfahrt den beschaulichen Ort Banon. Hier ist heute Markttag, und Markt ist wie in jedem Provencedorf immer auch ein Fest für die Sinne. Wir nutzen die Gelegenheit zu einer willkommenen Futterpause und nehmen köstliches Ökobrot und Ziegenkäse mit auf die Reise.

 

Durch einsames Buschland geht der Weg weiter abwärts bis Le Largue. Wir haben noch reichlich Zeit und entscheiden uns für einen kleinen Umweg. Einem Trockental folgend erreichen wir das weite Tal des Flüsschens Laye. St. Etienne-les-Orgues liegt am Fusse des grossen Waldgebietes der Montagne de Lure und macht einen einladenden Eindruck.

 

Wir radeln jedoch bald weiter. Es folgt eine sehr schöne und kaum befahrene Bergstrecke. Kurvenreich führt die Strasse durch Wald hinauf nach Fontienne. Hier oben auf der Höhe haben wir eine tolle Aussicht über karstige Bergflanken bis weit hinab ins Tal der Durance. Die Strasse verläuft weiter aussichtsreich auf der Höhe durch Karstformationen.

 

Das Städtchen Forcalquier liegt am Fuss dieses Höhenzuges, so dass wir den Tag mit einer kleinen Abfahrt beschliessen können. Auf einem Bergsporn oberhalb der Altstadt thront die Zitadelle. Der grosse Platz mitten in der Stadt mit seinen vielen Cafés vermittelt das typisch südfranzösische Flair – hier gefällt’s uns. Der Campingplatz liegt nicht weit vom Stadtzentrum entfernt und hat sogar einen Pool! Am Ende dieses warmen Tages kommt ein Bad genau richtig.       

 

 

Mittwoch, 08.09. Forcalquier – Moustier Ste. Marie:

 

Wir verlassen Forcalquier in der Frühe. Auf der breit ausgebauten N 100 radeln wir abwärts ins Tal der Durance. Landschaftlich ist das zwar eine nette Gegend, aber die breit ausgebaute Strasse ist aus Radlerperspektive ziemlich langweilig.

Wir überqueren die Durance. Das Tal ist breit und weist ausgedehnte Kiesbänke auf - ein Eldorado für wärmeliebende Insekten, die uns allerdings unbehelligt lassen.

 

Wenige Kilometer südlich von Oraison beginnt eine einsame und schöne Waldstrecke, die uns hinauf auf das Plateau von Valensole führt. Hier beginnt bereits der Regionalpark von Verdon. Auf leichter Steigung führt die Strasse durch lichten Eichenwald aufwärts. Oben angekommen belohnt ein Aussichtspunkt mit Blick in das Tal der Asse die Mühen.

 

Sobald wir die Hochfläche erreicht haben, ändert sich das Landschaftsbild völlig. Das Plateau von Valensole ist zumindest hier völlig baumfrei – Äcker und trockene Wiesen bestimmen das Bild. Am Horizont tauchen über der kahlen Hochfläche die bis zu 2000 m hohen Berge nahe der Verdonschlucht auf.

 

In Valensole gönnen wir uns eine lange Mittagspause. Der Ort hat einen schönen Dorfkern mit vielen Schatten spendenden Bäumen und einem großen Brunnen mit Waschhaus – ideal für eine Erfrischung! Der Weg führt weiter über die einsame Hochfläche und schliesslich abwärts nach Riez.

 

Nach einem Café-Stop beschliessen wir noch weiter zu radeln bis Moustier Ste. Marie. Die Stecke dorthin ist allerdings zunächst nicht allzu spannend – auf endlos langer Gerade geht es kontinuierlich leicht bergauf. Einzig die immer näher rückende Bergkulisse des Horizontes bietet Abwechslung.

 

Die Szenerie ändert sich aber schlagartig, als wir den Scheitelpunkt der Strecke erreichen. Ab hier führt die Strasse kurvenreich durch den Wald abwärts, um schliesslich vor einer beeindruckenden Felswand Moustier zu erreichen. Unterhalb des spektakulär gelegenen Ortes bauen wir unser Zelt auf.

 

Im schönsten Licht des späten Nachmittages erkunden wir daraufhin den Ort. Die spektakuläre Lage, die architektonische Geschlossenheit und nicht zuletzt die Kapelle auf dem Fels über dem Ort locken zahlreiche Reisende hierher. Besonders auffällig ist der goldene Stern, der zwischen den Felswänden hoch über der Kapelle in der Sonne blinkt.

 

Im Ort wird beiderseits des Wasserfalles die gesamte Palette provencealischen Kunsthandwerkes zum Kauf angeboten. Spezialität des Ortes sind Fayencen - kunstvoll bemalte Porzellane. Das Preisniveau ist angesichts potenter Touristen recht zünftig, uns gefällt’s hier dennoch. Und abends gibt’s das alles mit Beleuchtung – die Felswände über dem Ort sind angestrahlt!

 

 

Donnerstag, 09.09. Moustier Ste. Marie – La Palud:

 

In der Frühe macht uns ein fernes Fauchen neugierig. In der Kühle des frühen Morgens steigt ein Heissluftballon dicht vor der Felswand empor und schwebt langsam davon.

 

Die heutige Tour wird nicht allzu lang, dafür aber umso spektakulärer! Über eine schöne wald- und kurvenreiche Strecke klettern wir langsam aufwärts und erreichen hoch über dem Stausee Lac de Ste. Croix den Ausgang der Verdonschlucht. Wir werden die kommenden Tage im und am größten Canyon Europas verbringen.

 

Der Verdon hat sich im Laufe der Jahrtausende tief in die aufgefalteten Kalksteinplatten eingeschnitten. Dieses spektakuläre Naturphänomen ist mittlerweile für den Tourismus ziemlich gut erschlossen. Es führen auf der gesamten Länge beiderseits Strassen rings um die Schlucht herum. Zahlreiche Aussichtspunkte mit atemberaubenden Perspektiven in die tief eingeschnittene Schlucht sorgen dafür, dass man vor lauter Gucken kaum vorankommt!

 

So begeben wir uns auf die schweiss- und kurvenreiche Fahrt in die Schlucht. Bei den atemberaubenden Ausblicken nehmen wir kaum wahr, dass wir immer höher kommen. Wir überqueren den über 1000 m hohen Col d’ Ayen und erreichen bereits mittags nach kurzer Abfahrt das Nest La Palud. Hier schlagen wir das Zelt auf.

 

Bernhard freut sich auf einen „arbeitsfreien“ Nachmittag. Mich aber lockt die Schlucht und nach kurzer Pause mache ich mich mit dem Rad ohne Gepäck auf den Weg, um die Route de Cretes zu fahren. Die Route de Cretes ist ein etwa 20 Kilometer langer Rundkurs, der einzig und allein die Funktion hat, die spektakulärsten Aussichtspunkte, die Belvedéres, für Besucher zu erschliessen.

 

Doch vor dem Genuss heisst es erst mal ackern. Es ist heiss und die Strecke hat auf langen Abschnitten deutlich mehr als 10% Steigung. Im langsamen Wiegetritt erarbeite ich mir ein Belvedére nach dem anderen. Die Aussicht ist, wie zu erwarten war, phänomenal. Ich stehe oben am Rande von mehrere hundert Meter hohen senkrechten Kalkfelsen, unten schlängelt sich im dichten Grün das silberne Band des Verdon. Während ich diese archaische Landschaft in ihrer Gesamtheit geniesse, kraxeln zahlreiche Kletterer immer nur den nächsten sicheren Griff im Blick durch die senkrechten Felswände. Am Horizont deuten hohe Berge die nicht mehr fernen Alpen an.

 

Als wäre das alles nicht schon beeindruckend genug, schwebt in der Thermik vor der Felswand ein ausgewachsener Geier majestätisch vorbei. Schliesslich erreiche ich in einer Höhe von rund 1300 Metern den Scheitelpunkt der Route des Cretes. Von hier geht es ebenso steil wieder abwärts. Die Piste ist bucklig, so dass ich mir schnell die Felgen heiss bremse. Nachdem ich die Schlucht verlassen habe, muss ich noch ein Stück aufwärts, um wieder zurück ins Dorf La Palud zu kommen. Dort wartet Bernhard und hat bereits für Kaloriennachschub gesorgt.    

 

 

Freitag, 10.09. La Palud:

 

Nach einer kühlen Nacht freuen wir uns heute auf einen Tag am Grund der Schlucht. Beim Dorfbäcker organisieren wir uns köstliche Backwaren. Das „Pain au chocolát“ zählt zu dem besten, das ich in Frankreich gegessen habe.

 

Unsere Zeltnachbarn, Kletterer aus Garmisch, nehmen uns im Auto mit zum „Chalet La Maline“, dem Startpunkt für eine Tageswanderung entlang des Sentier Martel durch die Schlucht. Der steile steinige Weg führt am Rande der Schlucht tief hinab bis fast an den Fluss Verdon. Der Wanderweg führt immer oberhalb des Flusses und meidet das Flussbett wie der Teufel das Weihwasser. Das ist aus Sicherheitsgründen offenbar nicht anders machbar, schließlich kann der Wasserpegel urplötzlich und unvermittelt ansteigen, wenn flussaufwärts am Kraftwerk Wasser abgelassen wird, um Strom zu produzieren.

 

Wir wandern im Schatten des Buchs- und Eichenwaldes durch eine grandiose Felsszenerie. Beiderseits des Flusses ragen mehrere hundert Meter hohe senkrechte Felswände in den Himmel. Teilweise ist das Flusstal so eng, dass der Weg einen weiten Umweg mit vielen schweißtreibenden Höhenmetern nehmen muss. Garniert wird der Pfad durch einige atemberaubend steile Treppenkonstruktionen, die schon fast an einen Klettersteig erinnern.

 

Zum Ende der Tour warten am Fuss des Point Sublime zwei lange Tunnel. Im Tunnel ist es zappenduster, so dass man ohne einer Taschenlampe überhaupt nichts sieht. Geschäftstüchtig lauert genau an der Stelle im Tunnel, an der es richtig duster wird, ein Franzose mit einer beeindruckenden Kollektion von Taschenlampen. Diese verkauft er mit sattem Gewinn an schlecht vorbereitete Wandersleute - Ideen muss man haben!

 

Der Betrieb hält sich heute in der Schlucht in Grenzen, wir können weitgehend ungestört die Szenerie geniessen. Offenbar ziehen es die meisten Besucher wohl  vor, die Aussichtspunkte am oberen Rand der Schlucht mit dem Auto anzufahren. An genau so einem Aussichtspunkt, dem Point Sublime, endet unsere Wandertour.

 

Nach einem Aussichtsstopp versuchen wir per Anhalter die letzten Kilometer zurück nach  La Palud zu gelangen und haben nach kurzer Zeit Glück. Ein Holländer kommt gerade vom Weineinkauf aus Castellane zurück und hat noch zwei Plätze im Auto frei.

 

Angesichts des großartigen Naturschauspieles der Verdonschlucht und der zahlreichen Reisenden wundert es mich, dass das Dorf La Palud immer noch klein und beschaulich geblieben ist. Die Atmosphäre nach dem Ende der Sommerferien gefällt mir gut. Wir kommen natürlich nicht am Bäcker vorbei, ohne uns nicht doch wieder mit leckeren Schweinereien zu versorgen. Nach der Tour schmeckt’s am Dorfplatz noch mal so gut.      

 

 

Samstag, 11.09. La Palud – Castellane – La Palud:

 

In der Nacht gibt es irgendwo auf dem Zeltplatz ein heftiges Gelage. Jedenfalls wird lange und laut gebechert. Am Morgen liegen diverse alkoholisierte Schnapsleichen vor den Zelten.

 

Wir freuen uns über unsere klaren und schmerzfreien Köpfe und brechen mit dem Rad auf zu einer Tagestour nach Castellane. Die Strecke entlang des Verdon ist landschaftlich ein Gedicht. Es herrscht zwar reger Ausflugsverkehr, aber das sind überwiegend Touris wie wir, die auch die Szenerie geniessen und mit Ausnahme einiger Motorradfahrer zivilisiert fahren. Kurvenreich führt der Weg zwischen Felswänden immer am Fluss entlang. Das Wetter ist prächtig – genau richtig!

 

In Castellane angekommen, lockt uns die spektakulär auf dem Fels thronende Kapelle „Notre Dame du Roc“. Wie nicht anders zu erwarten war, ist die Aussicht von der Kapelle auf das Städtchen, das Verdontal und die Berge wunderbar. Die Aussicht auf die Kapelle ist dagegen aus der Nähe etwas ernüchternd, das gute Bauwerk hat schon mal bessere Zeiten gesehen.

 

Zurück im Ort besuchen wir den Markt. Hier werden Köstlichkeiten in Hülle und Fülle angeboten, Käse, Würste, Brote, eingelegte Früchte, Gewürze, Obst, kurzum die ganze Vielfalt der Provence. Das Licht ist gut, und ich habe reichlich Gelegenheit, farbenfrohe Fotos auf dem Markt zu machen. Wir lümmeln uns eine ganze Weile in dem netten Ort mit seiner kleinen Fussgängerzone und dem lebhaften Marktplatz herum. Zwei Motorrad-Opas laufen unter den staunenden Blicken der Cafébesucher auf dem Marktplatz ein. Beide fahren eine aufgemöbelte grossvolumige Yamaha, eine in blau, die andere in gelb. Gut fahren kann man auf dem Hobel vermutlich nicht wirklich, aber vor der Bar machen sie eine wirklich gute Figur.

 

Auf dem Rückweg nach La Palud werden die Horden rasender Motorradtrupps doch gelegentlich ziemlich lästig. Daher verlassen wir am Point Sublime die Hauptstrasse und versuchen, eine kleine Nebenstrasse zu finden. Es geht lang und stramm bergauf in ein Nebental des Verdon. Das Strässchen ist zum Radeln wie geschaffen, schmal, kurven- und ebenso aussichtsreich und so gut wie kein Verkehr. Allerdings haben wir einige Höhenmeter mehr zu überwinden als auf der Hauptstrasse.

 

Wir müssen irgendwann das Tal des Baches Baou queren. Erst geht die Strasse extrem steil in engen Kurven abwärts, um dann auf der anderen Hangseite ähnlich steil wieder in die Höhe zu klettern. Ich freue mich über meinen kleinsten Gang am Rad, den kann ich jetzt gut gebrauchen. Über den kleinen Pass von Châteauneuf erreichen wir schliesslich die Abfahrt, die uns zurück nach La Palud bringt.      

 

 

Sonntag, 12.09. La Palud – Les Salles:

 

In der Nacht werde ich wach, als in der Ferne Donner grollt, der schnell näher kommt. Das anschliessende Gewitter und der Regen bereiten mir eine unruhige Nacht. Am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei, und die Sonne kommt wieder raus. Der Regen kam gerade zur rechten Zeit und hat die Hinterlassenschaften der Läuse aus unserem schattenspendenden Baum vom Zelt gewaschen.

 

Heute stehen einige Höhenmeter und zahlreiche Aussichtspunkte entlang der Schlucht auf dem Programm. Die „Route de Corniche Sublime“ führt uns am Südrand der Verdonschlucht zurück zum Stausee von Ste. Croix.

 

Auf dem Weg hinauf zum Südrand der Schlucht passieren wir das am Hang gelegene mittelalterliche Städtchen Trigance. Hier scheint der Tourismus die wirtschaftliche Triebfeder zu sein, dennoch hat der Ort seinen Charme. Wir klettern weiter auf steiler Strasse empor und erreichen in einer Höhe von etwa 1000 m die Verdonschlucht.

 

Ab hier geht es achterbahnmäßig weiter, es gibt kaum einen ebenen Meter. Die Aussichtspunkte der Balcons de la Mescla bieten noch mal spektakuläre Tiefblicke in die Schlucht. Ansonsten ist schweisstreibendes Ackern auf dem Rad angesagt.

 

An der Pont de l’Artuby ist heute reger Betrieb. Tief unter der Brücke führt das jetzt ausgetrocknete Bachbett des Artuby zum Verdon. Das ist anscheinend ein guter Ort um fliegen zu lernen – Wagemutige stürzen sich hier - das Gummiband an den Füssen befestigt - von der Brücke in die Tiefe. Der Adrenalinkick scheint enorm zu sein, wenn man das an der Lautstärke der ausgestossenen Schreie misst.

 

Von der langen Abfahrt zum Stausee trennt uns nun noch ein 1200 m hoher Buckel. Bernhard meutert, er kriegt langsam weiche Knie. Die Umrundung der Verdonschlucht wird in Rudolf Geser’s Buch „Die schönsten Alpenpässe mit dem Rennrad“ immerhin als schwierig bewertet. Aber irgendwann ist auch dieser Buckel geschafft und der blaue See liegt uns zu Füssen. Da es hier oben ziemlich frisch ist, müssen wir uns warme Klamotten für die Abfahrt anziehen. Die lange Abfahrt hinab nach Les Salles am Ufer des Sees haben wir uns heute redlich verdient. Wir geniessen mit abnehmender Höhe die zunehmende Wärme.

 

Der Campingplatz in Les Salles ist teuer und überraschenderweise ziemlich gut belegt mit Wohnmobilisten und Wohnwagen. Leider gibt’s heute abend nichts mehr zu essen, die Läden sind Sonntagabend geschlossen. Immerhin stauben wir in der Rezeption noch ein paar Dosen kaltes Bier ab.   

 

 

Montag, 13.09. Les Salles – Manosque:

 

In Les Salles ist die Hauptsaison bereits vorbei. Das merken wir, als wir am Morgen ausgehungert Proviant kaufen wollen und der Supermarkt aber erst um 9 Uhr öffnet. Also muss ersatzweise die Boulangerie herhalten. Croissant und Pain au chocolat reichen aus für’s erste Frühstück.

 

Die Strecke nach Aups ist breit ausgebaut und daher zum Radeln zunächst nicht allzu spannend. Das ändert sich aber, als wir einen kleinen Pass überqueren und die letzten Kilometer nach Aups kurvenreich durch Wald bergab sausen. Im Ort machen wir Pause. Da sich Bernhard in Aups einen Ausflug in die französische Küche gönnen will, mir jedoch bei dem traumhaften Wetter der Sinn nach Radeln steht, trennen sich für heute unsere Wege. Wir verabreden uns für den Abend in unserem heutigen Etappenziel Manosque.

 

Die Strasse nach Montmeyan verläuft fast eben entlang des Südhanges eines kleinen Höhenzuges. Weinfelder und verschlafene Orte säumen den Weg. Ich komme flott voran. In Montmeyan biege ich ab, um noch einmal einen Abstecher entlang des Unterlaufes des Verdon zu machen.

 

Quinson liegt idyllisch am aufgestauten Verdon. Hier zweige ich ab auf eine schöne Nebenstrasse in Richtung Esparron-de-Verdon. Durch lichten Wald führt der Weg kurvenreich bis ich eine Hochfläche erreiche. Auch hier dominiert der Weinanbau. Eine flotte Abfahrt bringt mich in den Ort Esparron. Dieses Kleinod liegt direkt am Ufer eines weiteren Verdon-Stausees. Das Wasser ist glasklar, der See ist von Wald umgeben und lädt zum Urlaubmachen ein. In den Hügeln um den See liegen verstreut Ferienhäuser. Ich radele weiter auf der einsamen Strasse, die zunehmend Achterbahnqualitäten bekommt.

 

Kurz vor dem Kurort Greoux-les-Bains lande ich auf einer etwas stärker frequentierten Strasse. In der Stadt mache ich Pause und gönne mir ein paar kalorienreiche Backwaren aus der Boulangerie. Das gibt Kraft für den letzten Buckel, der mich nun noch von Manosque trennt. 150 Höhenmeter rauf und hinten wieder runter ins Durancetal lege ich schnell zurück.

 

Im Durancetal ist dann leider Schluss mit der Beschaulichkeit. Autobahn, Route Nationale und die ausgedehnten Gewerbegebiete von Manosque sorgen für reichlich Verkehr. Ich wusele mich endlos lange durch den Speckgürtel der Stadt. Nach der Ruhe der letzten Tage ist es mir hier eindeutig zu laut und zu hektisch.

 

Glücklicherweise ist das komplette historische Zentrum der Stadt eine Fussgängerzone und demzufolge ein willkommener Ruhepol. Ich suche lange bis ich die Tourist Information finde und mir den Weg zum Campingplatz erklären lasse. Dann lasse ich mich auf einer Bank an der alten Kirche nieder und stelle mich auf eine längere Wartezeit ein. Aber Bernhard hat offenbar flott Tempo gemacht und erreicht Manosque früher, als ich erwartet hatte.

 

Wir fahren raus zum Campingplatz, was noch ein ordentliches Stück bergauf zur Folge hat. Dummerweise gibt es auf dem Weg dorthin keinen Laden, in dem wir unseren Proviant aufstocken können. Die Supermärkte liegen offenbar alle am anderen Ende der Stadt unten im Durancetal.

 

Ich habe heute allerdings überhaupt keine Lust mehr, noch mal durch den stinkenden Verkehr zu radeln. Während ich das Zelt aufbaue, überkommt Bernhard offenbar der Hunger, und er opfert sich für die notwendige Einkaufstour. Es dauert lange, bis er voll beladen zurückkommt. Aber sein Einsatz hat sich gelohnt, wir zaubern uns ein köstliches Mahl und tanken einige Biere nach.        

 

 

Dienstag, 14.09. Manosque – Roussillion:

 

Pünktlich zum Morgengrauen zieht ein heftiges Gewitter auf - damit wird ein trüber Regentag eingeläutet. Erst gegen 10 Uhr hört der Regen auf, so dass wir erst spät frühstücken. Der Himmel sieht ernüchternd aus.

 

Wir packen unsere Klamotten zusammen und sind gerade startklar, als es wieder zu regnen beginnt. Wir warten lange und sind unschlüssig, ob wir losfahren sollen oder nicht. Die Perspektive auf Dauerregen auf dem Rad behagt mir nicht sonderlich.

 

Als es um ein Uhr immer noch nicht aufgehört hat zu regnen, überzeugt mich Bernhard, dass es wohl besser sei im Regen zu radeln als in den Sanitärgebäuden des Campingplatzes auf Sonne zu warten. Im strömenden Regen radeln wir los und sind natürlich bald durchnässt. Die Strecke ist abgesehen vom Mistwetter schön zu fahren. In leicht bewegtem Gelände führt die wenig befahrene Strasse durch Wald und Weinanbaugebiet. Vom Höhenzug des Luberon, dem wir heute folgen, sehen wir leider nicht viel. Der Wald verschwindet in Nebel und dichten Wolken. Dazu ist meine Brille mittlerweile völlig beschlagen, so dass ich halbblind durch die Lande radele. Aber damit habe ich ja reichlich Übung aus meiner nasskalten Heimat...

 

Kurz bevor wir Lourmarin erreichen, hört tatsächlich der Regen auf, welch Wunder! Wir nutzen die Gelegenheit und machen hier in diesem Touri-Ort eine Pause mit leckerem Gebäck. Lourmarin ist fein herausgeputzt, teure Kunsthandwerksläden und gehobene Gastronomie beherrschen das Ortsbild.

 

Die Strasse führt nun geradewegs nach Norden über den Höhenzug des Luberon. Es geht in dem engen Tal stetig aufwärts. Das passt jetzt gut, so können wir uns wieder warm und trocken radeln. Als wir oben in Bonnieux ankommen, ist die Welt wieder in Ordnung. Wir halten kurz an und erfreuen uns an dem tollen Ausblick. Der reicht hinüber bis zum Plateau von Vaucluse, wo wir ja bereits in der vergangene Woche umhergeradelt sind.

 

Wir verlassen den Luberon wieder und rauschen talwärts. Nachdem wir die Route Nationale überquert haben, sind es noch einige Kilometer aufwärts, bis wir das ockerfarbene Dorf Roussillion erreichen. Hier gibt es einen der berühmten Ockersteinbrüche. Die Ockerpigmente wurden hier bereits früh aus diesem Gestein heraus gelöst. Genutzt wurde das für die Herstellung von Farben, den berühmten Ockerfarben, die zumindest hier in Roussillion standesgemäss jedes Haus verschönern.

 

So schön das Dorf und seine Lage auch sind, einen Supermarkt für unsere hungrigen Bäuche suchen wir vergebens. So müssen wir in den sündhaft teuren Touri-Läden ein kleines Vermögen für unser Abendessen ausgeben. Der Campingplatz liegt einige Kilometer ausserhalb in einem Wald.

 

 

Mittwoch, 15.09. Roussillion – Fontvielle:

 

In der Frühe hängt dichter Nebel über dem Wald, alles ist klamm. Wir wollen uns, bevor wir weiterradeln, erst den Ockersteinbruch ansehen. So radeln wir ohne unser Gepäck zurück nach Roussillion. Als wir den Ockersteinbruch erreichen, bricht die Sonne durch den Nebel und löst ihn zögernd auf. Man ist hier sehr geschäftstüchtig: wir werden erst einmal um zwei Euro erleichtert, damit wir Zugang zum Steinbruch erhalten…

 

Die Farben sind in der Tat eine Freude für die Augen - blauer Himmel, grüner Wald und dazu die satten Rot-Töne des Gesteines. Da wir heute früh unterwegs sind, treiben sich auch noch nicht so viele Besucher hier herum. Nachdem wir genug gesehen haben, radeln wir im Schneckentempo kreuz und quer durch die Gassen von Roussillion. Wie bereits in Lourmarin dominieren hier ebenfalls hochpreisige Kunsthandwerksläden und Restaurants.

 

Wir wollen jedoch weiter und fahren zurück zum Zeltplatz. Die Sonne hat mittlerweile den Nebel „aufgesogen“, so dass wir alles trocken einpacken können. Über kleine Strassen fahren wir durch den Wald in Richtung Gordes. Diesen hoch auf dem Berg thronenden Touristenort lassen wir jedoch rechts liegen, wir wollen schliesslich weiter!

 

Wir radeln flott bei leichtem Gefälle nach Cavaillon, wo der Höhenzug des Luberon ausläuft und wir die Durance abermals überqueren. Hier dominiert die Landwirtschaft. Am Ortsausgang von Cavaillon decken wir uns an einem  Hofverkauf mit den köstlichen Früchten der Saison ein.

 

Auf wenig befahrener Nebenstrasse durch Agrarland nähern wir uns St. Remy. Der südliche Horizont wird von der Hügelkette der Alpilles begrenzt. Hier erreichen wir die Wirkungsstätte von Vincent van Gogh in seinen letzten Lebensjahren. In St. Remy hat er ein Jahr in der Psychiatrie verbracht und dort zahlreiche Bilder gemalt. Den charakteristischen Hügelrücken der Alpilles erkenne ich gleich von seinen Bildern wieder.

 

Auch heute nach über hundert Jahren profitiert das Krankenhaus immer noch von seinem vermutlich prominentesten ehemaligen Patienten. Van Gogh-Jünger können die Stätte seines Wirkens besichtigen, dafür wird zumindest auf großen Schildern an der Strasse geworben.

 

Uns zieht es nicht in die Irrenanstalt, sondern weiter nach Arles. Wir überqueren die Alpilles und sehen hoch auf einem Bergsporn die monumentale Festung Les Baux liegen. In Maussane legen wir ein kurzes Päuschen ein, um den weiteren Tagesverlauf zu planen. Wir beschließen noch ein Stück weiter zu radeln bis Fontvieille. Hier kaufen wir Proviant und schlagen auf dem örtlichen Zeltplatz unser Domizil auf. Leider sind nicht nur wir hungrig, sondern auch zahlreiche Moskitos…  

 

Donnerstag, 16.09. Fontvielle – Remoulins:

 

Der nahende Herbst lässt sich nun auch in der Provence nicht mehr leugnen, am morgen ist es recht kühl. Dazu bläst ein strammer Mistral von Norden. Den kalten Wind von der Seite erreichen wir nach kurzer Fahrzeit die Rhonestadt Arles. Hier in der windgeschützten Altstadt wird es schnell warm.

 

Der Mistral hat den Himmel völlig frei gefegt, das Licht ist klar und gleissend. Ist es dieses reine Licht, welches Vincent van Gogh einst ins Hirn gebissen hat? Ich bekomme jetzt jedenfalls eine Ahnung, was diese Stadt für Maler wie Fotografen so spannend macht.

 

Wir treiben uns den ganzen Vormittag auf den Plätzen und in den Gassen der Altstadt herum. Am Place de Forum ist das legendäre Nachtcafé von Van Gogh weitgehend originalgetreu wieder in Betrieb. Hier treiben sich neben Touris auch einige skurrile Gestalten herum, die zumindest so aussehen, als wären sie der Künstlerszene nicht allzu fern. Vincents Aura scheint hier noch nicht viel von ihrer inspirierenden Kraft eingebüsst zu haben. Die Stadt, ihre Plätze und die patinareichen Häuser vermitteln ein sehr entspanntes Ambiente.

 

Irgendwann am fortgeschrittenen Nachmittag wollen wir weiter, um noch heute abend die Pont du Gard zu erreichen. Obwohl es dorthin nicht mehr allzu weit ist, haben wir ein Stück Schwerarbeit vor uns: wir müssen durch weitgehend ausgeräumtes Agrarland gegen den heftig blasenden Mistral ankämpfen. Wir arbeiten uns langsam mit abwechselndem Windschatten fahrend die Rhone aufwärts. In Tarascon machen wir vor dem bissigen Mistral geschützt kurz Futterpause. Bei der Weiterfahrt direkt am Rhoneufer staunen wir nicht schlecht, als der Wind Wellen mit Schaumkronen vor sich herschiebt.

 

Wir erreichen schliesslich am Abend den Campingplatz an der Pont du Gard, wo unsere Freunde Inge und Günter auch schon wie verabredet eingetroffen sind. Die beiden haben eine Rundtour durch Camargue und Mittelmeerküste hinter sich. Es gibt viel zu erzählen. Aber der kalte Mistral treibt uns früh ins Zelt…   

 

 

Freitag, 17.09. Remoulins – Avignon – Remoulins:

 

Da wir erst morgen abend die Heimreise nach Allemagne antreten müssen, haben wir heute noch genug Zeit für einen Tagestrip ohne Gepäck ins nahe Avignon. Wir nehmen dabei einen Umweg in Kauf, um so die viel befahrene Route Nationale weitgehend zu meiden. Leider klappt das nicht ganz, das letzte Stück müssen wir im heftigen Verkehr auf der Schnellstrasse zurücklegen, bevor wir zur Brücke in die Stadt gelangen.

 

Nach 1,5 Stunden erreichen wir die Rhonestadt, über der schon von weitem sichtbar der Papstpalast thront. Bei Überquerung der Rhone fällt sofort die viel besungene in der Flussmitte abgebrochene Brücke „Sur le pont…“ auf, hinter der sich in der Ferne am Horizont bei klarer Sicht der Mt. Ventoux erhebt.

 

Avignon ist sehr lebhaft, viele Menschen bevölkern die Plätze und Strassen um den Papstpalast herum. Die Stadt hat eine ausgedehnte und weit verzweigte Fussgängerzone mit vielen engen und schattigen Gassen. Auf dem Hügel neben dem Papstpalast liegen in exponierter Lage die Gärten. Diese Grünanlagen haben mittlerweile eher die Funktion eines Stadtparks übernommen, als authentischer Renaissancegarten sind sie kaum noch erkennbar. Nichtsdestotrotz hat man von der Klippe hoch über der Rhone einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt. Da der Mistral den Himmel blank gefegt hat, ist die Luft heute glasklar. Die weisse Kappe des Mt. Ventoux ist klar erkennbar, ebenso das Plateau von Vaucluse, der Luberon und die Alpilles.

 

So vertrödeln wir lustwandelnd den Tag in Avignon, der Besuch hat sich gelohnt! Beim Rückweg verzetteln wir uns etwas mit dem Rad, da wir wieder nach Möglichkeit die Route Nationale meiden wollen. Im flotten Tempo heizen wir, den Mistral schiebend im Rücken, zurück zur Pont du Gard. Den letzten Abend geniessen wir mit Inge und Günter beim gemeinsamen Abendessen.    

 

 

Samstag, 18.09. Remoulins:

 

Heute ist leider unser letzter Tag in Südfrankreich. Da wir allerdings erst spät am Abend den Bus besteigen, haben wir noch reichlich Zeit, um uns die alte Römerbrücke nebenan genauer anzusehen.

 

Zu Fuss sind es nur ein paar Minuten zur Pont du Gard. Seit 2000 Jahren steht dieses gut erhaltene und formvollendete Zweckbauwerk aus der Römerzeit hier und überspannt den Fluss Gardon. Bis in das vergangene Jahrhundert diente es unverändert seiner originären Zweckbestimmung – dem Transport des kostbaren Trinkwassers aus den Cevennen in die Stadt Nimes. Mittlerweile hat eine leistungsfähige Leitung diese Aufgabe übernommen. Die Römerbrücke dient heute ausschliesslich kulturhistorischen und touristischen Zwecken.

 

Im Licht des frühen Tages habe ich gute Fotografiermöglichkeiten, es sind auch nur wenige Besucher hier, sehr angenehm! Als ich schliesslich zum neu gestalteten Besucherzentrum auf der Nordseite des Flusses komme, wird mir angesichts der Dimensionen etwas schwindelig. Während der Hauptsaison scheinen hier grosse Besucherströme durchgeschleust zu werden. Gut, dass es heute so ruhig ist!

 

Das Besucherzentrum hat alle Merkmale einer modernen interaktiv orientierten „Infotainment“-Anlage. Natürlich wird auch hier die gesamte südfranzösische Produktpalette von Kitsch bis Kunsthandwerk zum Kauf angeboten. Über allem dominieren Produkte rund um den aromatischen Lavendel. Die feine französische Küche hat hier leider keinen Platz - derartige Besuchermengen lassen sich wohl nur mit Hilfe von „Fast Food“ und „Take away“ halbwegs zeitnah satt bekommen.     

 

Ich erkunde die Hügel und Aussichtspunkte um die Brücke herum und suche nach lohnenden Fotomotiven. Gegen Mittag wird das Licht sehr hart und flach, es wird Zeit für mich zu gehen. Schliesslich muss ich das Zelt noch abbauen und das ganze Gepäck reisefertig verstauen.

 

Am Nachmittag düse ich mit Bernhard noch einmal in den Ort Remoulins, um Proviant für die Rückfahrt zu besorgen. Bei der Gelegenheit geniessen wir den letzten Kaffee unter südfranzösischer Sonne.

 

Als es dunkel wird, haben wir unser Gepäck an den Rädern verstaut, und wir radeln ein letztes Mal gemeinsam zur Römerbrücke. In andächtiger Stille genehmigen wir uns unter dem Sternenhimmel ein Bier und denken an die armen Schweine, die dieses Meisterwerk im Schweisse ihres Angesichtes zur Zeitenwende hier geschaffen haben.

 

Spät um elf Uhr kommt der Fahrradbus von „Natours“ und sammelt das Häuflein versprengter Radler ein.

 

 

Sonntag, 19.09. Remoulins – Oldenburg:

 

Die Nacht im Bus ist wenig bequem. Da ich mit meinen zwei Metern Länge für die Schlafsitze einen halben Meter zu lang bin und ausserdem noch den beleibten Bernhard neben mir schnarchen habe, ziehe ich es irgendwann vor, den Rest der Nacht sitzend zu verbringen. Das ist deutlich bequemer, und ich bekomme sogar noch eine Mütze voll Schlaf. Die Rückkehr nach Deutschland verläuft überraschenderweise anders als sonst - es scheint die Sonne! 16 lange Stunden nach unserem Start in Remoulins erreichen wir Osnabrück. Von hier sind es noch knapp 2 Stunden mit der Bahn und wir sind wieder zuhause in Oldenburg.

 

Rückblickend bin ich froh, dass uns der halbstarke Daniel mit seinem aufgemotzten Peugeot 206 nicht über den Weg gefahren ist…

 

 

Zusammenfassung:

 

Zum Saisonausklang fahre ich mit zusammen mit Freund Bernhard in die sonnenverwöhnte Provence. Nach unserer Ankunft mit dem Fahrradbus von Natours in Remoulins starten wir gleich mit dem Rad. Unser erstes Ziel hat ein anständiges Kaliber, der fast 2000 Meter hohe Mt. Ventoux wartet.

 

Die steile Auffahrt verlangt uns am zweiten Tourtag einiges ab, die Tour wird hart, aber wegen der landschaftlichen Szenerie auch beeindruckend. Wir radeln über die einsamen Hochflächen von Vaucluse und Valensole ostwärts und überqueren dabei das Durancetal. Schöne Dörfer laden immer wieder zu Pausen ein. Das Wetter ist wunderbar zum radeln, der Verkehr hält sich in Grenzen.

 

Als wir schliesslich die gewaltige Verdonschlucht erreichen, lassen wir uns für ein paar Tage in La Palud nieder. Von hier unternehmen wir einige Tagestouren über die Route des Cretes, nach Castellane sowie eine Wandertour durch die Schlucht.

 

Die weitere Tour führt uns auf schweisstreibenden Bergstrecken um die Schlucht herum bis zum Stausee von Ste. Croix. Von dort radeln wir durch einsame Wälder und Weinbaugebiete entlang des Höhenzuges des Luberon. Hier erleben wir den einzigen üblen Regentag der Tour. Wir erreichen schliesslich das Dorf Roussillion und besichtigen dort den farbintensiven Ockersteinbruch.

 

Wir setzen unsere Tour fort und erreichen in St. Remy und der Rhonestadt Arles die Wirkungsstätte der letzten Jahre des genialen Malers Vincent van Gogh. Arles begeistert uns durch das Licht und sein Ambiente.

 

Wir kommen schliesslich zum Ausgangspunkt unserer Tour nach Remoulins zurück. Ein Tagestrip führt uns in die alte Papststadt Avignon mit ihrer berühmten Brücke und der ebenso lebhaften wie schönen Altstadt. Der letzte Tag der Tour gehört dem Aquädukt aus alter Römerzeit, dem Pont du Gard.

 

Nach 15 Tagen, 870 Kilometern und einigen nicht gezählten Höhenmetern beenden wir eine rundum gelungene Tour und stellen uns mental auf den nahenden mitteleuropäischen Winter ein…   

 

 

Copyright: Oliver Lange, Oldenburg (2005)